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Gedenkkerze

Umgang mit schwierigen Emotionen und Gefühlen

Für diejenigen, die sich dafür interessieren, ist es sicher aufschlussreich sich mal grundsätzlich dem Charakteristikum Trauer anzunähern. Durch ein bestimmtes Verständnis dafür, wie so ein Ereignis wie Trauer überhaupt entstehen kann, kann möglicherweise einiges geklärt werden und zwar in der Art, damit all die mühsamen Versuche nicht traurig zu sein, mal ganz anders angenommen werden können. 

 

Also zunächst die Frage: Was ist Trauer? Man kann davon ausgehen, dass Trauer aus eigenem Antrieb heraus zu unserem Sosein gehört, so etwa wie Hunger, Durst oder Schmerzempfinden. Wenn wir Hunger und Schmerzempfinden nicht hätten, wären wir vermutlich alle schon tot, weil wir nicht wüssten wann wir etwas essen sollten oder ob wir überhaupt etwas essen sollten. 

Bei Trauer meinen wir, das ist etwas das nicht passt, zumal es sich für uns unangenehm anfühlt. Aber gesetzt den Fall, Trauer gehört eben wie Hunger, Durst oder Schmerz mit dazu und deutet auf etwas hin, dann stellt sich für uns natürlich die Frage, was das überhaupt sein könnte.  

 

Also, zunächst einmal sagen wir immer: „Ich habe Durst oder ich bin traurig“. Und das setzt voraus, als würde sich die Trauer und das „Ich“ (wir selbst) getrennt voneinander ereignen. Das „Ich“ wäre traurig, es gäbe dann aber auch ein „Ich“ alleine, ohne Trauer. Demnach wäre das „Ich“ fix, aus sich aus sich selbst heraus existierend, das getrennt von allem ist und damit unveränderlich. 

Anders betrachtet könnten wir es aber auch so sehen, dass das „Ich“ eben nicht ein fixes, substantielles Phänomen ist - nicht getrennt von allem - so wie das auch viele spirituelle Traditionen betrachten und was mittlerweile auch seitens der Neurowissenschaften attestiert worden ist. Folglich sind wir das Ergebnis bestimmter Umstände deren ständige Interaktion ein Selbstbild erzeugt, aber jetzt, von Augenblick zu Augenblick. Und: Je stärker das Selbstbild ist, umso größer ist die daraus resultierende Trennung.  

Wir kriegen dieses „Ich“ einfach nicht zu fassen, weil es eben eine Form von Identität ist, die immer entsteht, solange ein ganzes Instrumentarium - nennen wir es mal so - von Bedingungen in hochkomplexer Form, diese Art von Identität erzeugen und aufrechterhalten können. Wenn wir Bewertungen vornehmen geschieht das meistens durch ein Gefühl - es passt, es fühlt sich gut an...Aber das was sich jetzt gut anfühlt wird sich nach 2-3 Minuten schon wieder anders anfühlen, je nachdem wie die Umstände sind. Dementsprechend wird das „Ich“ sehr flüchtig betrachtet, weil es zweifellos mit allem verbunden ist und sich deshalb von Augenblick zu Augenblick immer frisch und einmalig ereignet. Deswegen sind wir bei Weitem auch nicht so frei, wie wir glauben es zu sein. Unser „Ich“ ist lediglich als eine operative Organisationszentrale zur Lenkung  des Lebens, das sich nicht aus sich selbst heraus, sondern immer jeweils im Beziehungsgeflecht neu ereignet. Es ist lediglich der „Hausmeister,“ nicht der „Eigentümer“. 

Das heißt, unter bestimmten Umständen ereigne ich mich jetzt gerade als Trauer, Wut, Freude oder Angst. Aber wenig später ereignet sich mein „Ich“ eben anders, gemäß den Umständen die gerade geschehen - jetzt. So gesehen setzt das natürlich eine ganz andere Betrachtung des „Ichs“ voraus, bekanntermaßen weder fix noch substantiell. 

Wenn also unser „Ich“ als etwas sehr flüchtiges und prozesshaft gesehen wird, das sich im Beziehungsgeflecht ständig neu ereignet, dann ist das für unsere Emotionen und Gefühle genauso zutreffend. Folglich sind unsere Gefühle und Emotionen ebenso flüchtig und werden genauso wieder vergehen wie sie gekommen sind, in dem Augenblick in dem andere Umstände dominieren. Unter bestimmten Umständen - beispielsweise im Falle des Verlustes einer geliebten Person - ereignet sich mein “Sosein“ eben als das was wir Trauer nennen.    

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Folgen wir mal dieser Spur, so erscheint uns das Leben selber, als die sogenannte „Vitalkraft“, die sich unterschiedlich durch die Wechselwirkungen im Beziehungsgeflecht, in dem sich gerade unsere Struktur ereignet, mal Farbe verleiht oder in die Brüche geht. Dementsprechend erscheint mein Leben unter bestimmten Umständen als Trauer, oder als Wut, oder als Freude, oder als Angst.

 

Wir bleiben jetzt bei dem Phänomen Trauer. Wenn es ein Leben oder eine „Vitalkraft“ gibt, dann ereignet sich diese „Vitalkraft“ als Trauer dann, wenn die Umstände eine bestimmte Reaktion, eine Abwehr oder einen Schutz erforderlich machen. Ich bin traurig, wenn etwa der Verlust einer geliebten Person erlebt wird, und diese Situation passt meinem System in diesem Augenblick so wie sie sich ereignet nicht. Und die „Vitalkraft“ ist da, um eine Reaktion, um ein Nein, einen Stopp oder sogar ein Dagegen zu sagen. Sie ist die Kraft gegen etwas. Und ob das schlimm oder gut ist sei dahingestellt. Es ist erst einmal so. 

Meist kommt etwas hoch in uns, was unbewusst - bewusst eher selten - durch verschiedene Gedanken getriggert wird oder es können ganz alte Erinnerungen durch eine unbewusste Assoziation auftauchen. 

 

Dementsprechend ist Trauer eine „Vitalkraft“, eine körperliche psychosomatische Kraft, die durch den Fokus der Gedanken gegen den Schmerz der Trauer oder etwas gerichtet wird, etwas das wir mit unseren Gedanken uns vorstellen oder interpretieren, wodurch uns gerade eben im Moment etwas schmerzhaftes oder existenzbedrohendes widerfährt - jetzt im Augenblick. Soll heißen, wenn wir das Phänomen der Trauer nicht mit Gedanken begleiten, dann würden wir nur auf der Kraft bleiben. Ohne Gegenspieler ist Trauer lediglich eine psychosomatische Kraft. Mehr nicht. Und mit dieser können wir ganz anders umgehen, als mit der sogenannten Trauer, vor allem da wir bereits schon in einem gedachten Schmerz oder in einer existenzbedrohenden Situation sind. Das bedeutet, wenn eine Emotion auftaucht, beispielsweise Trauer, aber auch andere, ist es ratsam nicht noch zusätzlich Gedanken ins Feuer der stattfindenden Emotionen hineinzuwerfen. Mit anderen Worten:

 

„Emotionen sind genauso flüchtig, wie Gedanken und beide hängen - nicht immer, aber doch sehr häufig

- am Tropf ihrer passenden Narration.“ 

(Alexander Poraj) 

                                 

Deshalb ist es empfehlenswert, so es möglich ist, einzig und allein bei dem Phänomen der „Vitalkraft“ zu bleiben. Diese kann sich dann viel leichter im Körper ausbreiten, erreicht ihren Höhepunkt und kann dann wieder verhältnismäßig schnell vergehen. Denn ohne Gedanken sind die Emotionen relativ kurz, so sie nicht durch die äußeren Faktoren beziehungsweise den gedachten Umständen künstlich getriggert werden. 

Emotionen sind weder schlimm noch feindlich. Damit wird deutlich, dass unter der Trauer meistens etwas anderes ist auf das die Trauer die Reaktion war. Häufig verbirgt sich dahinter ein Schmerz, oder eine Angst, oder beides.

So muss es uns auch nicht verwundern, wenn Trauer - in der Kombination mit anderen Emotionen insbesondere wie Angst oder Wut - ohne Frage existenzbedrohende Ausmaße annehmen kann. 

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Auf der anderen Seite ist es auch plausibel, dass wir als Kinder psychisch überhaupt nicht in der Lage waren uns zu wehren oder ein kräftiges Nein zu sagen. Die Konsequenzen daraus sind alles andere als angenehm. Sollte es wie bekannt ist dazu gekommen sein, was wir Trauma nennen, so ist die Inanspruchnahme professioneller Hilfe unumgänglich - und könnte sogar Jahre dauern bis zur Auflösung. Das besagt, die „Vitalkraft“, die sich gegen etwas wendet und damit gleichzeitig unser eigenes System angreift, ist alles andere als positiv zu sehen.

 

Nun aber reagiert unser System nicht immer und augenblicklich hinsichtlich dessen, was gerade geschieht, sondern es organisiert sich auch hinsichtlich dessen, was wir aus der Erinnerung interpretieren oder in der Vorstellung uns denken, was passiert. 

Anscheinend unterscheidet unser System nicht zwischen dem, was ist, und dem, was ich denke oder interpretiere, was ist, oder was ich glaube, was jetzt schon wieder ist, in Ähnlichkeit zu dem, wie es schon mal war - und es war ganz schlimm. Dann reagiert das System häufig erneut mit Trauer, Schmerz oder Angst, obwohl die Situation gar nicht mehr so ist, was eine derartige Reaktion rechtfertigen würde.  

Wenn wir beispielsweise als Kind Verlassenheit erleben mussten - Aufenthalt im Krankenhaus oder sogar eine Behandlung im Säuglingsinkubator oder ähnliches mehr - dann ist für mich 20, 30, 40, 50 Jahre später in dem Augenblick in dem eine mir wichtige Person zu einer Verabredung zu spät kommt, oder sogar der Verlust einer geliebten Person erlebt wird, ähnlich bedrohlich wie vor 50, 60 Jahren anfühlt, wie damals als ich ein kleines Kind war. 

Und meine Reaktion auf die Nachricht: „Ich verlasse dich“ oder schon das Wort „Verlassen“ alleine bewirkt schon eine Reaktivierung dessen, was war. Diese Situation  kann durchaus von einer heftigen Angst oder einem Schmerz begleitet werden, weil das System sich gegen das wehrt, wogegen es als Kind zu kämpfen hatte: Nämlich Verlassenheit und das bedeutete damals eine existentielle Bedrohung. Und dann kann die Trauer, Angst oder beides zusammen, auch noch 40, 50 Jahre später extrem stark sein, obwohl die Situation objektiv gesehen überhaupt nicht mehr angemessen ist. Wenn mit 40, 50 Jahren eine Beziehung beendet wird, dann mag sich das zwar äußerst unangenehm anfühlen, ja, möglicherweise sogar Depressionen auslösen. Aber im Unterschied zu einem Kleinkind sind wir in keiner Weise existentiell bedroht. 

 

Das heißt, die Emotionen Trauer, Angst, Wut, Schmerz, sind zum Teil auch etwas „blind“. Sie sind schnelle psychosomatische Reaktionen, die Situation interpretierend, entweder weil sie wirklich gefährlich ist, oder weil sie einer bereits erlebten Gefahr ähnelt. Also kurz zusammenfassend: Trauer, Angst, Wut als psychosomatische Fähigkeit sich entsprechend zu ereignen, als das „Ich“ in diesem Moment, ist weder gut noch schlecht, sondern hängt von den Umständen ab. Weil aber die Umstände eben im Sinne einer Bedrohung sehr schnell beantwortet werden müssen, lässt unser System dem Überlegen häufig keinen Spielraum mehr, denn es will uns retten. 

 

„Ich kann nichts riechen, nichts schmecken. Weißt du wie sich das anfühlt? Als wäre man gar nicht da“. (...)

(Emil Dreesen, Filmfigur)

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Frau Dr. Nesmil Ghassemlou, Fachärztin für psychotherapeutische Medizin, Psychoonkologin, Palliativmedizinerin und langjährige Hospizbegleiterin hat fast ihr ganzes Leben sterbende Menschen auf ihrem letzten Weg begleitet. Im Rahmen der Vorstellung ihres neuesten Buches mit dem Titel „Seelensang - Geschichten vom Leben und Sterben“, hat sie von ihren beeindruckenden Erlebnissen, Gesprächen und jahrelangen genauen Beobachtungen mit Sterbenden sowie den betroffenen Angehörigen skizziert. Zum Thema Trauer hat sie - hier sinngemäß zitiert - den folgenden schönen Satz kreiert: 

 

            „Trauer ist ein Prozess bei dem das Außen nach Innen geholt wird.“     

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Eine sehr interessante Aussage, das Ergebnis einer außergewöhnlich langen und genauen Beobachtung. Ein "Außen" oder ein "Außerhalb" - was immer das sein mag - soll integriert werden. Trauer wird also nicht als Einheitserfahrung charakterisiert, sondern als ein Zustand der Trennung - Innen und Außen. Damit wird deutlich: Trauer wird in den seltensten Fällen als Einheitserfahrung erlebt, was uns eigentlich zu denken geben sollte.

 

Hinter dieser Trennung versteckt sich das Gefühl der sogenannten Dualität das durch den Ich-Blickwinkel automatisch immer erzeugt wird. Es entsteht ein Innen und ein Außen, ein ich und etwas...Das Denken an sich und auch das Fühlen ist Bipolar. Es setzt immer das Gefühlte und den Fühlenden voraus, es erzeugt ihn. Das Ich-Gefühl entsteht nur dann, wenn wir uns als getrennt vorstellen. Mehr noch: Wir sind nur "ich" und ganz "ich", wenn wir es schaffen, von anderen und anderem getrennt zu sein. Und: Diese Trennung halten wir für die Wirklichkeit.     

Wir sind gezwungen, schon aufgrund der Sprache in Gegensätzen zu denken - also bipolar. Unsere Sprache ist so aufgebaut, dass fast immer, direkt oder indirekt, das Pronomen „Ich“ benutzt wird: Ich denke, ich gehe, ich atme, ich verdaue, ich schlafe... Das suggeriert, dass jeder Handlung vorab ein fixes „Ich“ zugrunde liegt. Wie bereits angesprochen ist die Einsicht, auf der verschiedene andere Traditionen aufbauen, aber eine Umgekehrte. Nicht ich bin vorher und dann denke ich, sondern ich bin das Ergebnis des Denkens. Dann sieht aber alles ganz anders aus. 

Wenn wir also das Ergebnis des Denkens sind, dann können wir das Ganze vorher auch nicht sehen, weil es uns vorher gar nicht gibt. Wir interpretieren die Wirklichkeit einfach zu schnell und damit falsch. Unser „Selbst“ ist demgemäß ein Prozess, der sich jeden Augenblick den Umständen entsprechend neu ereignet. Begriffe wie Selbstverwirklichung oder Selbstbestimmung sind demnach nicht mehr als eben nur diese Worte und zwar deswegen, weil das ein bereits vorhandenes „Ich“ voraussetzt. Weil wir aber auf unsere Art des Denkens selber reinfallen, glauben wir, wir wären vorher schon da. Und das wird nicht als real existierend gesehen.  

Rote Rose

 

Alles hängt mit allem zusammen. Auch du selbst.“

(unbekannt)

 

So sind im chinesischen Chan und dem späteren japanischen Zen verschiedene Übungen entstanden, die sehr stark darauf fokussiert sind, die lebendige Einsicht in die Beschaffenheit der Wirklichkeit erlebbar zu machen. Dabei handelt es sich um spirituelle Übungen, die häufig aus einer einfachsten normalen Handlung und Haltung besteht, wie beispielsweise dem Sitzen. Dabei wird die Aufmerksamkeit auf den Körper oder den Atem fokussiert. Wird die Aufmerksamkeit eine Zeit lang gehalten, dann erleben wir PRÄSENZ, das einfache Dasein im Hier und Jetzt. Das Sitzen wird geübt, weil sich die Wirklichkeit immer nur als Gegenwart ereignet. SIE IST. Dabei geht es um eine unmittelbare und umfassende Einsicht in die Wirklichkeit. Diese Einsicht drückt sich aus in Weisheit und Mitgefühl.

 

Weil die Wirklichkeit beziehungsweise die Gegenwart ist, kann sie auf gar keinen Fall nur eine gedachte Vorstellung sein und zwar deswegen, weil Vorstellungen lediglich auf Erinnerungen aus der Vergangenheit basieren - auf eine gewünschte und bessere Zukunft hin - in diesem Zusammenhang gibt es keine Gegenwart. Und die wichtigste aller Vorstellungen ist unser Ich - unser Selbstbild - weswegen unser Ich auch nicht gegenwärtig sein kann. Es gibt kein fixes Ich, beziehungsweise das Ich ist keine in sich feststehende Instanz - vielmehr kreiert es sich von Augenblick zu Augenblick neu.

 

Dadurch ergibt sich die Frage: Wer empfindet die Trauer? Wer hat Angst vor der Verlassenheit? So kann man darauf schließen: Wenn wir auf die Trauer blicken, dann hat nicht nur das Ich keine eigene Substanz, sondern hat auch die Trauer keine. Alles, die Trauer, die Angst, sowie auch die anderen Gefühle entstehen aus einer wechselseitigen Bedingtheit oder Wechselbeziehung heraus. Oft ist auch zu hören, dass wir unsere dunklen und negativen Aspekte in uns integrieren müssen - und dann sei alles gut.

 

Folgt man jedoch den Lehren in den verschiedenen östlichen Schulen, wie dem Chan oder Zen, dann muss gar nichts geeint werden und zwar deswegen, weil es niemals wirklich je eine Trennung gegeben hat. Genauer gesagt: Zumal schon immer alles das EINE ist, und wir auch immer schon das EINE sind und waren, wie kann dann das, was wir integrieren wollen, den außerhalb dieses EINEN sein? Was auch immer dieses "Außen" oder dieses "Außerhalb" sein mag, was wollen wir dann wohin integrieren? Auf den Punkt gebracht bedeutet das für uns: Wenn das Ich eine sogenannte Illusion ist - nicht aus sich heraus existierend, ohne dauerhaften und gleichbleibenden Bestand - dann ist beispielsweise Trauer, die gleichermaßen aus einer wechselseitigen Bedingtheit, einer Wechselbeziehung heraus entsteht, also auch nicht eigenständig aus sich heraus bestehen kann - ebenfalls eine Illusion. So kann man sagen: Letztendlich ist alles leer, weil es nichts fixes an sich und aus sich heraus existierend gibt. Alle Erscheinungen sind ohne selbstständigen Wesenskern. Somit ist auch Trauer leer - ohne jegliche Substanz und ohne jegliche Eigenständigkeit.        

                                         

Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, wir sehen, wie wir sind.

(Talmud)

 

Trauer ist ein unangenehmes Gefühl, aber sie ist doch etwas anderes wie die Realität - sie ist eine Reaktion auf die Realität. Wären Gefühle das wofür wir sie halten, nämlich die unmittelbare Einheit mit der Realität, dann müssten zwei unterschiedliche Personen Bein Anblick einer dritten Person dieselben Gefühle haben. Und das ist eben nicht möglich, weil sich die Gefühle unterschiedlicher Personen immer unterscheiden. Deshalb sind Gefühle auch nicht der uns in die Wiege gelegte objektive Maßstab. 

 

Es fällt uns schwer Gefühle wie Trauer oder Angst auszuhalten - mich selbst aushalten. Gerade Männern fällt es tendenziell schwerer, über Gefühle zu reden. Die Vorstellung vom Kontrollverlust löst bei ihnen Angst aus. Sie versuchen eher, die Trauer allein zu bewältigen oder mit neutraler Hilfe, etwa in der Literatur oder in Foren. Deswegen bleibt Trauer oft unbearbeitet und wächst weiter, bis man unter der Last zu zerbrechen droht und möglicherweise krank wird.

 

Es gehört oft Mut dazu - aber manchmal brauchen wir unseren ganzen Mut - um uns selbst zu begegnen, den eigenen Ängsten, unserer eigenen dunklen Seite ins Gesicht zu schauen, uns damit zu konfrontieren. Irgendwann ist schließlich die Wahrnehmung da, die Erfahrung, dass da nichts ist, was uns existentiell bedroht oder für uns unmittelbar gefährlich werden könnte. Sondern da ist einfach nur noch das Gefühl der Trauer oder der Angst. Bis schlussendlich gleichermaßen an dieser Stelle die Wahrnehmung erscheint, dass Trauer und alle anderen Gefühle und Emotionen auch, in sich leer sind - es sind nur Illusionen, die aus der wechselseitigen Bedingtheit heraus mit unseren Konditionierungen entstanden sind. Und dann ist da nichts mehr, kein Schmerzes Trauer und auch keine Angst vor der Einsamkeit mehr. Einfach nur noch Leere - letztendlich ist alles LEER. 

 

„Wunder stehen nicht im Gegensatz zur Natur, sondern nur im Gegensatz zu dem,

was wir über die Natur wissen.“  

(St. Augustin)

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Gefühle sind psychosomatische Reaktionen des Körpers und des Geistes auf das, was im Bewusstsein auftaucht. Aus ihm heraus können wir alles so empfinden, wie es kommt und vergeht. Im Bewusstsein selber ist aber nichts los. Dort herrscht Still-Stand. Und genau das ist der eigentliche Stand der Natur des Bewusstseins, völlig unabhängig davon, ob und was in ihm auftaucht. Das Bewusstsein bewegt sich nicht und ändert sich auch nicht. Es entscheidet sich für ein Gefühl oder gegen einen Gedanken. Es ist immer im Frieden und nicht in Abhängigkeit von dem, was in ihm auftaucht oder wenn es verschwindet. Sein Frieden hat mit unserer Vorstellung von Frieden kaum etwas gemein. Zufriedenheit ist für uns ein Gefühl, das kommt oder verschwindet. Aber genau diese Wahrnehmung ist eine Täuschung - eine Illusion. Denn Friede kommt nicht und geht auch nicht. Es ist eher so, dass wir unter gewissen Umständen seiner bewusst werden oder eben nicht.

 

Demnach ist Schmerz keine Ablehnung von Freude, und Freude ist nicht das Fehlen von Schmerz. Trauer steht nicht im Widerspruch zur Lust, und die Lust kommt nicht erst zum Vorschein, nachdem die Trauer verschwunden

 ist. Die unterschiedlichen oder gegensätzlichen Gefühle scheinen sich zu widersprechen, aber sie existieren gleichzeitig und im Frieden nebeneinander. Die Wirklichkeit ist immer das Ganze - das EINE - und das schließt alle Unterschiedlichkeiten in sich ein. In Bewegung gibt es Ruhe, und in Ruhe existiert Bewegung. Bewegung und Ruhe die sich zu widersprechen scheinen existieren gleichzeitig. Mehr noch: Ohne Ruhe gibt es auch keine Bewegung. Vorne und Hinten existieren gleichzeitig, rechts und links existieren gleichzeitig.

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So gesehen gibt es auch keinen Konflikt zwischen den einzelnen Gefühlen. So entsteht zwischen Beispielsweise zwischen Trauer und Lust kein Konflikt, sondern er entsteht dadurch, dass wir die Lust anstelle der Trauer vorziehen, im festen Glauben etwas unternehmen zu können, wodurch sich die Lust verlängert und die Trauer verkürzt, stark abschwächt oder gar ganz verschwindet. Und das ist eben voller Probleme.

 

Die Wirklichkeit spielt sich gleichzeitig ab. Der Fachausdruck dafür heißt konditional. Mit anderen Worten: Es gibt nur Wechselwirkungen in Bezug auf..., aber nicht an sich. Das ist das Wirken der Wirklichkeit, die sich ständig wandelt, die ständig Neues hervorbringt - von Augenblick zu Augenblick neu. Und wir haben eben keine Möglichkeit, dieses Wirken der Wirklichkeit mit unserem Verstand zu erfassen, weil wir nur kausal denken können, sprich linear - Ursache/Wirkung - und das Leben funktioniert eben so nicht. Das hat zur Folge: Das, was wir mit unserem Verstand in der Lage sind zu erfassen, ist immer nur eine Seite. Aufgrund dessen neigen wir auch dazu Mal für Mal nur eine Seite als endgültig und absolut zu sehen, ohne dabei zu bemerken, dass ihr Gegenteil bereits vorhanden ist. Die Wirklichkeit ist nicht kausal, nicht nebeneinander und viel, sondern gleichzeitig. Und das können wir mit unserem Geist eben nicht erfassen.

 

Mit anderen Worten: Wir verkürzen die Komplexität der Wirklichkeit, indem wir uns die Wirklichkeit kausal konditionieren und damit stark vereinfachen. Auf der Rückseite von Jugend ist Alter, auf der Rückseite von Schönheit ist Hässlichkeit. Auf der Rückseite von Lust ist Trauer, auf der Rückseite von Leben ist Tod. Die Wirklichkeit umfasst immer beides und ist doch weder das Eine noch das Andere in abgetrennter Form. Man kann rechts und links nicht voneinander trennen und jedes für sich allein existieren lassen. Man kann Bewegung und Ruhe nicht getrennt für sich existieren lassen. Eines und Vieles bestehen nicht getrennt voneinander. Das Eine bedingt das Viele, und umgekehrt. Wird eine Seite weggenommen, dann vergeht auch die andere.                                           

 „Wenn wir bedenken, dass wir alle verrückt sind, ist das Leben erklärt.“

  (Mark Twain)  

 

Die unterschiedlichen Gefühle inspirieren uns, uns mit unseren Gedanken eine Lebensweise vorzustellen, in der vorwiegend Freude oder Lust und kaum Trauer oder Schmerz gefühlt wird. Das hat zu Folge, dass wir einen Teil der Gefühle als angenehm bezeichnen und ihr Gegenteil als unangenehm. Beide Teile betrachten wir als ganz und gar nicht miteinander in Einklang zu bringen und machen deswegen Gegensätze aus ihnen, sodass wir uns im Endergebnis nur ein Entweder - oder vorstellen können - es gibt nur die eine Seite oder die andere.

 

Und genau dadurch kann die Komplexität der Wirklichkeit nicht so erlebt werden, wie sie ist, sondern nur stark vereinfacht. Diese Gegebenheit ist dann der ununterbrochene Ausgangspunkt unserer Gedanken. Die Aufgabe dieser Gedanken ist aber nicht das bezeichnen von dem, was ist, und so, wie es ist - also eine Art der Bewusstwerdung - sondern das sich ausdenken von dem, was als Reaktion angenehme Gefühle hervorbringt. Das Wesentliche dabei ist der gegebene Umstand, dass nicht wir, also unser Ich sich das Ganze so einteilt und vorstellt, sondern dass unser Ich diese entsprechende Art der Vorstellung ist. Und mitten im Ich ist ebenso nichts los - da ist keine Substanz, gar nichts. Wir sind dieses NICHTS.

 

Die Konfrontation mit Trauer und Alleinsein, können Zustände und Gefühle auslösen, von denen wir schon immer auf der Flucht waren. Allein zu sein mit dem Gefühl der Trauer, des Schmerzes oder der Verlassenheit, scheint oft nicht aashaltbar zu sein. Aber wir sind nicht allein. Das gibt es leider (oder Gott sei dank) nicht. Wir sind mit dem Gefühl der Trauer und Verlassenheit allein. In der Natur der Sache liegend müssen wir beim Alleinsein landen, weil das "Ich-Sein" letztendlich Alleinsein bedeutet - je stärker das Ich desto größer die Trennung und damit das Alleinsein. Weiterhin bedeutet das "Ich-Sein" Hoffnungen zu haben auf Erlebnisse, Erfahrungen und Umstände, die sich gut anfühlen und die wir erleben wollen. Aber das ist noch nicht alles: Das "Ich-Sein" bedeutet die angenehmen , also diese und nur diese angenommenen Gefühle zu sein. Das "Ich-Sein" bedeutet allein zu sein mit bestimmten Gefühlen. Sie eben ganz allein für sich zu haben und das möglichst lange, auf Dauer. Allein zu sein mit dem Gefühl der Lust kann ekstatisch und berauschend sein. Allein zu sein mit dem Gefühl der Trauer, des Schmerzes oder der Verlassenheit bringt uns in Not.

 

"Das Denken kann sein letztes Warum nicht beantworten, weil auch diese Antwort ein Warum gebären würde."

(Dietrich Bonhoeffer)              

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Letztendlich geht es bei der Wahrnehmung von dem, was ist, generell um die Wahrnehmung von gelebtem Leben. Und je mehr ich in der Lage bin das sogenannte Traurige zu fühlen, umso mehr werde ich in der Lage sein auch das sogenannte Freudige zu fühlen. Die Stelle in mir, die das Angenehme und das Unangenehme wahrnimmt ist die gleiche. Kein menschliches System ist in der Lage sich für das Unangenehme zu verschließen, um dann ganz großartig, das Angenehme anzunehmen. So gesehen heißt letztendlich die Quintessenz aus dem Ganzen: Entweder alles oder nichts! Entweder Schmerz und Freude oder wenig Schmerz und wenig Freude und damit noch weniger Leben. Also die Fülle des Lebens leben und erleben heißt mehr von allem und nicht weniger von allem: Willkommen im Alltag!

 

Ich stelle mir das Sterben vor so wie ein helles Tor, durch das wir einmal gehen werden. Dahinter liegt der Quell des Lichts oder das Meer, vielleicht auch nichts.

Vielleicht ein Park mit grünen Bänken.

Doch eh` nicht jemand wiederkehrt und mich eines Besseren belehrt, möchte ich mir dort den Himmel denken. (Reinhard Mey)

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