Im chinesischen Chan und dem japanischen Zen, wie auch in weiteren östlichen Schulen kommt das Wort „Liebe“ im Vokabular kaum vor. In den monotheistischen Religionen dagegen spielt das Wort „Liebe“ eine geradezu überragende Rolle.
Der Einfluss der einzelnen Religionen in den jeweiligen Kulturkreisen auf das Verhalten der Menschen ist wesentlich umfassender, als der erste Blick das vermuten lässt. Dabei spielt es keine Rolle ob jemand aktiv gläubig ist, einer Konfession passiv angehört, der Kirche bereits den Rücken gekehrt hat oder sich als Atheist versteht.
So nimmt im Christentum, im Islam und dem Judentum der Gottvater eine alles überragende Position ein. Er ist der Mächtige, der Gerechte, der Strafende, aber er ist eben auch der Liebende, ja, der liebe Gott. Als Schöpfer befindet sich ihm gegenüber die gesamte Schöpfung in einem absoluten Abhängigkeitsverhältnis. Weil es aber ein Verhältnis ist und auch bleiben soll, ja, wegen des Größenunterschiedes bleiben muss, gibt es keine Möglichkeit der Einheit.
Das geht sogar so weit, dass auch nach dem Tod und im Falle einer Aufnahme in den Himmel, weiterhin die Trennung bestehen bleibt. Wir haben also eine Trennung und damit eine Distanz. Der Zustand jedoch, der sich am besten dafür eignet diese Art von Distanz zu verkürzen, das ist die „Liebe“. Dadurch entsteht aber so etwas wie eine moralische Verpflichtung im Sinne eines Gebotes von „Du sollst“ und „Du musst“, ja, eben einfach lieb sein. Die Liebe hat damit eine Aufgabe zu erfüllen, sie hat eine Funktion.
Im Chan oder Zen jedoch, sowie in den östlichen Schulen hat die „Liebe“ keinerlei Funktion, zumal nichts geeint werden muss, und zwar deswegen, weil es niemals wirklich je eine Trennung gegeben hat. Demnach basiert Liebe auf der Erfahrung des „Nicht-Getrenntseins“ - alles ist mit allem verbunden. Das heißt aber gleichzeitig auch das Fehlen jeglicher Substanz, das Fehlen jeglicher Eigenständigkeit von allem - und das trifft eben auch für uns Menschen zu.
Demnach ist also das, was in bestimmten Religionen und Kulturkreisen mit dem Wort „Liebe“ benannt worden ist, eben genau das, was sich sofort einstellt, wenn wir aufhören uns als getrennte und eigenständige Existenzen vorzustellen.
Liebe stellt sich also ein, sie wird nicht gemacht, oder wie eine Tätigkeit ausgeübt. Sie wird auch nicht weitergegeben oder empfangen. Sie ist weder ein Etwas noch ein Ding. Sie ist kein Gefühl und keine Empfindung. Mit anderen Worten: Liebe ist.
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